Plädoyer für naturgerechte Waldnutzung

„Die Erde ist eine Scheibe.“ Dieser einst weit verbreiteten Meinung dürften sich heutzutage nur sehr wenige anschließen. Genauso irrig ist nach heutigem Wissensstand die Aussage: „Den Wald muss man pflegen, bzw. nutzen und verjüngen, sonst bricht er durch Überalterung zusammen.“

Es ist wirklich erstaunlich, dass diese – inzwischen zum Dogma erhobene – Irrlehre gerade von Forstleuten vertreten wird. Sie werden nicht müde, dies gebetsmühlenartig zu wiederholen und zu verbreiten, und inzwischen sind die meisten Leute überzeugt, dass dies so ist und das, obwohl sie im ersten Fall nicht mehr glauben, dass die Erde eine Scheibe ist.

Wie ist das zu erklären?

Das Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ von Hans Christian Andersen kann vielleicht ein wenig Licht in diese Angelegenheit bringen. Die beiden Schelme setzen bei ihrem Betrug ja darauf, dass sich niemand eine Blöße geben will, indem sie behaupten, nur dumme Leute würden die schönen Kleider, gesponnen aus Seide und Gold, nicht sehen. Bei Kindern und Narren funktionieren Dogmen aber nicht. Es war ein Kind, das die Wahrheit laut hinausrief und so wurde der Bann gebrochen, die Betrüger entlarvt. Da ich den Kinderschuhen längst entwachsen bin, übernehme ich nun die Rolle des Narren, um den Schelmen des zweiten Beispiels laut entgegenzuhalten: Der Wald braucht euch nicht, er hat euch noch nie gebraucht! Schon lange bevor der Mensch auf der Erde erschien, gab es bestens funktionierende Wälder. Es ist kursichtiges und lineares Denken, das bedingt durch die Nutzerbrille nur diese eingeschränkte Sicht zulässt, dass der Wald die Eingriffe des Menschen benötigt, um vital und überlebensfähig zu bleiben.

Forstleute teilen den Wald in Entwicklungsphasen ein. So, als ob der Wald ein singuläres Wesen wie ein Einzelbaum wäre, das geboren wird, Kindheit und Jugend durchlebt, erwachsen wird, altert und schließlich schwach dahinsiecht bis zum Verfall. Dabei wird auch noch suggeriert, dass dieser Wald, nun alt und krank, seine (Schutz) Funktion nicht mehr ausüben kann.

So funktioniert Wald aber nicht. Es sind (Natur)Kreisläufe, die nahtlos ineinander übergehen. Ein Wald, zumindest einer der halbwegs natürlich wächst, vereint alle Altersstufen, vom Keimling über verschiedene Altersstufen bis hin zum mächtigen alten Baum und genau jenem Anteil an Totholz, das in den Zyklen der Baumindividuen angelegt ist. Es ist erwiesen, dass so ein Wald die besten Voraussetzungen für vielfältiges Leben bietet.

Nur wenn der Mensch unverhältnismäßig eingreift, sei es durch Holzschlägerungen, die das Gleichgewicht der Kräfte stören, oder durch das Füttern von Wild, (als handle es sich um Mastvieh), führt dies dazu, dass die Bestände bis zum Vielfachen des verträglichen Maßes gepuscht werden. Bestimmte Baumarten, bevorzugt die Tanne, können aufgrund des übermäßigen Verbisses nicht mehr aufwachsen. Diese Eingriffe und nicht die mangelnde Nutzung sind die Ursachen, die den Wald und das ganze zusammenhängende Ökosystem gefährden. Dafür gibt es unzählige Beispiele in der Menschheitsgeschichte, auch in anderen lebendigen Systemen, doch war der Lernerfolg daraus leider nicht sehr groß.

„Nachhaltigkeit“ einer der am meisten missbrauchten Begriffe, wird immer gerne bemüht, wenn es darum geht, darzulegen, dass nicht mehr Holz geerntet werden soll als nachwächst.

Durch die modernen Erntemethoden wird der Wald wie ein Maisacker behandelt. Kein Baum bleibt auf dieser Fläche stehen, was dazu führt, dass alle nachwachsenden Bäume das gleiche Alter aufweisen. Erst diese Vorgangsweise führt zu dieser Kategorisierung der Forstleute: Jugendphase, Optimalphase, Altersphase, Zerfallsphase, Zusammenbruch, Verjüngung.

Die übliche Nutzungszeit wird von der Jugendphase bis zum Alter von 140 Jahren angegeben. Für die Vielfalt des Lebens im Wald wird es aber erst ab einem Lebensalter von 140 Jahren interessant. Die Bäume werden also geerntet, bevor sie für die ökologischen Zusammenhänge beginnen fruchtbar und wertvoll zu werden.

Dazu eine Passage aus Peter Wohlleben´s Buch „Das geheime Leben der Bäume“:

Schon als Forststudent habe ich gelernt, dass junge Bäume vitaler sind und schneller wachsen als alte. Die Lehrmeinung wird bis heute vertreten und führt dazu, dass Wälder verjüngt werden sollen. Verjüngt? Das bedeutet nichts anderes, als alte Stämme zu fällen und durch frisch gepflanzte Bäumchen zu ersetzen. Nur dann seien die Wälder stabil und könnten auch entsprechend viel Holz produzieren und dadurch CO² aus der Luft aufnehmen und binden, so die aktuellen Aussagen von Waldbesitzverbänden und Forstwirtschaftsvertretern. Je nach Baumart soll im Alter von 60 bis 120 die Wuchskraft nachlassen, mithin ist es dann Zeit, die Erntemaschinen anrollen zu lassen. Werden die Ideale der ewigen Jugend, die in unserer Gesellschaft kontrovers diskutiert werden, einfach auf den Wald übertragen? Es erweckt zumindest den Anschein, denn ein 120 Jahre alter Baum ist, wenn man es auf menschliche Maßstäbe überträgt, gerade einmal der Schule entwachsen. Tatsächlich scheinen die bisherigen wissenschaftlichen Annahmen völlig verkehrt zu sein, wie eine Studie eines internationalen Forscherteams nahelegt. Die Wissenschaftler untersuchten weltweit rund 700 000 Bäume auf allen Kontinenten. Das überraschende Ergebnis: Je älter die Bäume werden, desto schneller wachsen sie. So erzeugten Bäume mit einem Meter Stammdurchmesser dreimal so viel Biomasse wie Exemplare, die nur halb so dick waren. Alt bedeutet bei Bäumen also nicht schwach, gebeugt und anfällig, sondern ganz im Gegenteil schwungvoll und leistungsstark. Baumgreise sind demnach deutlich produktiver als Jungspunde und im Zusammenhang mit dem Klimawandel wichtige Verbündete der Menschen. Die Parole, die Wälder zu verjüngen, um sie zu vitalisieren, darf seit der Veröffentlichung der Studie mindestens als irreführend bezeichnet werden. Höchstens im Sinne der Holznutzung zeichnet sich ab einem bestimmten Alter der Bäume eine Wertminderung ab. Pilze können dann zu einer Fäulnis im Stamminneren führen, doch das mindert das weitere Wachstum nicht im Geringsten. Möchten wir Wälder als Mittel zum Kampf gegen den Klimawandel nutzen, dann müssen wir sie alt werden lassen, ganz wie es die großen Naturschutzverbände fordern.“

Damit kein Missverständnis aufkommt. Selbstverständlich ist es legitim den Wald zu nutzen und das wurde auch gemacht, solange es Menschen gibt. Nur geht es um das richtige Maß und wie fast überall auf der Welt wird dieses so grenzenlos überschritten, dass es zu einem noch nie dagewesenen von Menschen verursachten Artensterben gekommen ist. Nicht nur in den Wäldern, sondern auch in den Wiesen, Flüssen, Seen und Meeren. Der Verlust an Naturräumen und deren Vermarktung durch Massentourismus ist ein Fanal. Diese unheilvolle Entwicklung geht ungebremst weiter. Verursacht durch ein Wirtschaftssystem, das auf Wettbewerb, grenzenloses Wachstum und Ausbeutung ausgerichtet ist.

Es ist ein gutes Zeichen, wenn sich immer mehr Bürgerinitiativen für die Qualität und den Erhalt ihres Lebensraumes einsetzen. Diese Initiativen gilt es zu unterstützen und untereinander zu vernetzen. Die etablierten Naturschutzorganisationen sollten fachliche, rechtliche, und strategisch beratende Unterstützung anbieten. Um dies leisten zu können, ist es notwendig, dass diese NGOs eng zusammenarbeiten, um politisch und gesellschaftlich wirksam zu werden. Naturschutzorganisationen, die sich um Spezialgebiete kümmern, sollten solidarisch sein, auch wenn es ihr Spezialgebiet nicht direkt betrifft. Denn Naturschutz ist nicht teilbar.

Die unreflektierte Verwendung des Begriffs „Nachhaltigkeit“, wie er jetzt inflationär angewandt wird, und die einseitige Propaganda, dass alles in bester Ordnung ist, gehört dringend hinterfragt und durch Fachkompetenz transparent gemacht. Zudem gilt es, Lösungsvorschläge nicht nur einzubringen, sondern auch mit dem nötigen Nachdruck zur Umsetzung zu bringen.

Franz Ströhle
Obmann des Alpenschutzvereins für Vorarlberg